Rezension
Wir leben in einer Zeit des kapitalistisch geprägten Strebens nach ständigem Wachstum. Dabei verbrauchen wir viel mehr Ressourcen, als wir zur Verfügung haben. Die Antwort darauf? „Lebensstile fördern, die mehr Lebenssinn bei geringerem Umweltverbrauch bieten“ (S. 267). Auf dieser Grundidee baut Soziologe Harald Welzer sein Buch auf. Er geht davon aus, dass der wachstumsgeprägte Kapitalismus die Menschen auf Arbeit und Konsum konditioniert und sie vom Weg zu einer „freien“ Gesellschaft abgebracht hat.
Unter einer ökologisch funktionierenden „freien Welt für freie Menschen“ versteht Welzer ein Umfeld der Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit. Voraussetzung dafür sind gesicherte Grundbedürfnisse und Gleichberechtigung, wirtschaftlich ebenso wie sozial. Denn soziale Ungleichheit bedeutet fast immer auch ökologische Ungleichheit. Voraussetzung sind Menschen und Gesellschaften, die offen sind für Komplexität und Widersprüche. Dies wiederum wird erst möglich, wenn nicht mehr nur Arbeit und Wachstum unsere Energie beanspruchen, sondern die Freiheit da ist, Neues zu denken.
„Eh schon zu spät“?
Dies nämlich ist Welzers zweiter großer Kritikpunkt: Viel zu häufig höre man derzeit – auch und gerade von jungen Menschen –, es sei zu spät zum Handeln und Einzelne könnten nichts ausrichten. Dieser Haltung stellt er im zweiten und dritten Teil seines Buches Vorschläge gegenüber. Denn er geht davon aus, dass es zahlreiche gesellschaftliche Errungenschaften, Infrastrukturen und auch funktionierende wirtschaftliche Abläufe gibt, auf denen man aufbauen könnte, um etwas zu ändern – oder, wie Welzer es nennt, eine „Wiedergutmachung“ zu starten.
In Teil 2 versammelt er die Bausteine, die aus seiner Sicht dafür nötig sind – größtenteils philosophische Konzepte, gesellschaftliche (Gemeinwohl, Mobilität, Infrastrukturen, Grenzen etc.) ebenso wie persönliche (Autonomie, Zeit) und zwischenmenschliche (Freundlichkeit, Erleben von Verschiedenheit, Sinn). Was stellenweise abstrakt klingt, wird anhand von Geschichte(n) illustriert und gelegentlich auch in mehr oder weniger konkrete Entwürfe gekleidet: Beim Punkt Mobilität sind das etwa Überlegungen zu einer autofreien Stadt, die zum Modell für andere Städte wird. Bei Institutionen und Infrastruktur ist das etwa ein Steuersystem, das unökologisches Handeln finanziell bestraft, oder ein länderübergreifender Umweltgerichtshof.
Es passiert schon mehr, als wir denken
Teil 3 schließlich entwirft ein „realistisches Zukunftsbild“ einer vielfältigen Gesellschaft, die den Pfad „zu einem versöhnten Naturverständnis“ eingeschlagen hat: Dabei ist die Wirtschaft nicht Wachstums-Selbstzweck, sondern Dienerin der Gesellschaft, Motor für den Bestand der Zivilisation und Ressource für sinnvoll-gerechte Umverteilung. Gedacht wird übernational, Produktion wird nicht mehr outgesourct, es gibt keine Grenzen, statt in Rüstung investiert man in ein bedingungsloses Grundeinkommen – voller Lohn bei 80% der Arbeit und 20% Zeit für solidarische Arbeit, Ehrenämter und persönliche Interessen. Das ermöglicht ein gemeinsames Kümmern um die Gesellschaft (S. 206ff.). Doch es wird nicht nur global gedacht: Viele Ideen würden gerade auf regionaler Ebene gut funktionieren. Hier bringt Welzer das Beispiel des Global Convenant of Mayors, einem Zusammenschluss von 9000 Bürgermeistern, die konkret Klimaschutz betreiben wollen; oder auch die Initiative RE100 mit 2000 Unternehmen, die bis 2050 aus der fossilen Energieversorgung ausgestiegen sein wollen. Laut einer Forschergruppe könnten „Initiativen dieser Art (…) zwischen 15 und 23 Gigatonnen CO2 jährlich einsparen und damit die weltweiten Emissionen bis 2030 um etwa ein Drittel entlasten“ (S.280).
Was dazu fehlt, ist die Bereitschaft einer Mehrheit – und die Motivation. Es braucht gute Geschichten (also z.B. Zukunftsentwürfe), und sie müssen attraktiv kommuniziert werden, also „sexy“ sein.
Welzer schreibt frei von der Leber weg, weitsichtig und durchaus ironisch. Wenig überraschend sind seine Positionierungen, u. a. gegen die Vorherrschaft des Autos, gegen Künstliche Intelligenz und für den gezielten Einsatz von Technologie, für soziale Gleichheit und Entscheidungsfreiheit und für Umverteilung. Überraschend dagegen ist, wie viele kleinere und größere Modelle es schon gibt, die beispielhaft genannt und mehr oder weniger detailliert beschrieben werden. Und plötzlich wirken nicht mehr Zukunftsentwürfe und Gleichheitsideen utopisch und absurd, sondern das vorherrschende System wird in seiner Absurdität vorgeführt.
Ansätze zum Weiterdenken
Ansätze zum Weiterdenken gibt es jedenfalls genug. Welzers Verdienst liegt meines Erachtens vor allem darin zu zeigen, dass nicht nur Ideen da sind, sondern dass sich mit der entsprechenden Einstellung und Botschaft sowie mit funktionierenden vorhandenen Strukturen gar nicht wenig umsetzen ließe. Vielleicht können wir als Einzelne vieles davon nicht stemmen, aber wir können uns von der grundpositiven Einstellung anstecken lassen, die dahintersteht. Es wäre schön, wenn wir uns damit durchsetzen.
Susanne Müller-Posch
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November 20, 2020 um 2:25 pm
Danke für diese informative Rezension! Klingt nach einem sehr lesenswerten Buch, kommt auf meine Liste.
November 22, 2020 um 11:15 am
Dazu passt ein Artikel, den ich kürzlich im Standard gelesen habe. Eine internationale Bewegung aus Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Anwält*innen und Politiker*innen hat die Kampagne „Stop Ecocide“ gestartet. Eine ihrer Forderungen: Umweltzerstörung zu einem Straftatbestand des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu machen. „Der Strafgerichtshof kann derzeit vier Verbrechen, darunter Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression, strafrechtlich verfolgen. Umweltzerstörung kann lediglich innerhalb von Kriegsverbrechen verfolgt werden.“ Nur Staaten selbst können derzeit festlegen, welche Umweltschäden auf ihrem Territorium wie zu behandeln sind. Zwar zahlen Unternehmen schon jetzt teils hohe Strafen, wenn durch ihr Tun größere Umweltschäden entstehen. Die sind aber in vielen Fällen sogar schon „eingepreist“ – die Projekte, die zu diesen Schäden führen, sind offenbar lukrativ genug.
Würde Umweltzerstörung auch strafgerichtlich verfolgt, hätte das andere Folgen, etwa auch Gefängnisstrafen.
Es gibt allerdings zwei Hürden: Zum einen die Definition – wo beginnt ein Umweltverbrechen, ab welcher Größe hat es internationale Dimension? Und zum anderen die Einigkeit: Die Mehrheit der Staaten müsste sich für einen solchen Gerichtshof aussprechen, damit er umgesetzt werden kann.
Das wird schwierig. Aber: Dem Bericht zufolge bekommt die Bewegung immer mehr Auftrieb – auch einige Staaten, darunter mehrere Pazifik-Inseln, Frankreich und Belgien, aber auch der Papst haben Initiativen in diese Richtung ergriffen.