Auf den Spuren echter Nachhaltigkeit

Cornelia Diesenreiter: Nachhaltig gibt’s nicht! Molden 2021, 158 Seiten, ISBN 978-3-222-15059-3

„Nachhaltig gibt’s nicht!“, sagt Cornelia Diesenreiter. Und sie muss es wissen, hat sie doch in ihrer Laufbahn das Phänomen „Nachhaltigkeit“ von allen erdenklichen Seiten abgeklopft. In ihrem Buch geht sie den Fragen nach, warum es so schwierig ist, nachhaltig zu leben, wie wir mit dieser Erkenntnis umgehen können und warum wir trotzdem nicht kapitulieren müssen.

Da will man sich bemühen …

Echt biologische Tomaten, wirklich fair gehandelter Kaffee, Glas oder Tetrapak – je mehr wir unser Wissen vertiefen wollen, desto weniger klare Kriterien scheint es zu geben und desto schwerer fallen selbst kleine (Kauf-)Entscheidungen. Wer dieses Dilemma selbst schon erlebt hat, wird sich in diesem Buch sehr stark wiederfinden. Denn Cornelia Diesenreiter ging es ganz genau so, und so machen ihr eigener Werdegang, ihre Studien- und Praxiserfahrungen einen guten Teil dieses Buches aus.

Am Beginn steht aber die Frage: Was ist Nachhaltigkeit überhaupt? Die Definition des Begriffes ist leider oft „offen für weitreichende Interpretationen“ (27), ebenso übrigens wie der Begriff „regional“ (69). Wir denken zunächst bei Nachhaltigkeit vor allem an den ökologischen Aspekt. Tatsächlich aber hat sie in der Definition der Brundtland-Kommission drei Säulen: Ökologie, Soziales und Wirtschaft. Eine Aktion oder ein Produkt muss sich auf allen drei Ebenen langfristig selbst tragen können, um nachhaltig zu sein. So sollte biologisch angebautes Gemüse keine Arbeitskraft ausbeuten, gleichzeitig muss seine Produktion finanzierbar sein, und Konsument*innen müssen es sich leisten können – und zwar möglichst nicht nur eine kleine, zahlungskräftige, gebildete Gesellschaftsschicht. Diese Kombination ist jedoch fast nie möglich – was uns zum nächsten Schlagwort führt, dem Zielkonflikt.

„Ein Zielkonflikt entsteht, wenn unterschiedliche Möglichkeiten, nachhaltig zu agieren beziehungsweise Belastungen zu vermeiden, gegeneinander abgewogen werden müssen.“ (41)

Supermärkte als Müllverursacher schlechthin? Zu kurz gedacht.
(c) ElasticComputeFarm, pixabay.com

Spätestens wenn Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder die Abholzung des Regenwaldes hineinspielen, haben wir die Entscheidung nicht mehr allein in der Hand. Das Gleiche gilt für das Phänomen des „burden shifting“. Es bedeutet, kurz gesagt: Gut gemeint ist nicht immer gut. Dieser Effekt tritt ein, wenn wir etwa ein Produkt zugunsten eines anderen vermeiden, das langfristig aber noch mehr Probleme erzeugt. Bezieht man all das ein, ist häufig die scheinbar nachhaltigere Alternative insgesamt die schlechtere. Ein Beispiel: Gurken halten in eine dünne Plastikschicht verpackt länger, müssen vom Supermarkt nicht weggeworfen werden und verursachen dadurch insgesamt weniger Müll. Dass Supermärkte in puncto weggeworfene Lebensmittel als die „Bösen“ schlechthin gelten, ist übrigens auch oberflächlich betrachtet: Weit mehr Abfälle verursachen die Gastronomie und noch viel mehr (in Summe) die Privathaushalte! Auch Mehrwegsysteme sind nicht immer besser, vor allem wenn die Wiederverwendung hohen Reinigungsaufwand verursacht.

Das Nachhaltigkeits-Paradox

Zu den vielen wirtschaftlichen und logistischen Faktoren kommen dann auch noch psychologische: die Erwartungen von uns Konsument*innen, die Diskrepanz zwischen Wünschen und deren negativen Konsequenzen und der Rechtfertigungsdrang, der daraus entsteht. Ein Beispiel: Viele von uns wissen, dass häufiger Fleischkonsum ökologisch problematisch ist und Tieren Leid zufügt. Trotzdem haben sie Lust auf ihr Schnitzel oder Steak. Gehen sie mit einer Vegetarierin essen, rechtfertigen sie oft ungefragt ihr eben bestelltes Schnitzel. Diesenreiter spricht hier vom „Nachhaltigkeits-Paradox“. Ein Fleischess-Verbot und der moralische vegetarisch-vegane Zeigefinger sind allerdings eher kontraproduktiv. Insgesamt spricht Diesenreiter fünf solch „grundlegende Hemmnisse der Nachhaltigkeit“ an:

  • Der Begriff ist schwer fassbar und wird nicht selten missbraucht (so betreiben viele Unternehmen Greenwashing und stellen sich nachhaltiger dar, als sie sind).
  • Die Komplexität: Im Alltag fehlen Wissen und die Zeit, um es zu vertiefen – und selbst ein relativ konsensueller „Stand der Wissenschaft“ setzt sich nicht immer gegen scheinbar einfache Lösungen durch. Kritisches Hinterfragen ist deshalb Grundbedingung. (In puncto Information erwähnt Diesenreiter übrigens einige Punkte, die hier ausführlicher besprochen werden.)
  • Kapazitäten: Nicht jede*r hat die Voraussetzungen und manchmal haben wir schlicht andere Probleme.
  • Prioritäten: Wir können die Nachhaltigkeit nicht immer überordnen. (Eine Mutter, die ihr Kind „gut“ ernähren will, wird vielleicht aus Sicherheitsgründen den Babybrei nicht über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus verwenden, sondern ihn wegwerfen.)
  • Schuld und Schuldgefühle: Wie wir wissen, führen derart negative Emotionen schnell zu Ablehnung.
Fleisch vermeiden als Nachhaltigkeits-Strategie?
(c) blende12, pixabay.com

Wir alle bewegen uns im Alltag wohl irgendwo zwischen diesen Hemmnissen auf der einen und gelebter Nachhaltigkeit auf der anderen Seite. Tatsache ist aber: Nachhaltigkeit gleicht einem Eisberg, von dem man nur die Spitze sieht. Wenn man das Thema näher betrachtet, stößt man auf Widersprüche und Probleme, zu denen es keine einfachen Lösungen gibt. Das beginnt schon bei dem plakativen Beispiel, das Diesenreiter hier bringt: Schon bei der Geburt bringen wir in der westlichen Welt einen ökologischen Fußabdruck mit, der größer ist als das, was einem Menschen rechnerisch zusteht (Biokapazität). Aber sollen wir deshalb aufgeben? Nein!

„Nur weil man etwas nicht perfektionieren kann, bedeutet das noch lange nicht, es aufgeben zu müssen.“ (125)

Die eigene Nachhaltigkeit im eigenen Rahmen gestalten

Mit viel Verständnis für dieses Dilemma – immerhin hat sie all die enttäuschenden Aha-Effekte selbst durchlebt – schlussfolgert die Autorin: Beginnen wir einfach an einem Punkt, der in unserer Macht steht, denn Perfektion ist unmöglich.

Tatsache ist: Nachhaltigkeit braucht viele Einzelne, die sich bemühen und dazu beitragen. Versuchen wir also, die eigene Nachhaltigkeit im eigenen Rahmen zu gestalten – oder zumindest hier zu beginnen. Wenn wir darüber hinaus etwas bewegen können, umso besser. Zunächst aber zählt vor allem das nötige Problembewusstsein.

Klein anfangen: Verpackungen vermeiden geht zumindest privat.
(c) Jasmin_Sessler, pixabay.com

Aus der Lektüre des Buches können wir mitnehmen:

  • Nicht jede Maßnahme ist für jede*n geeignet.
  • Zu dauerhafter oder zu intensiver Verzicht funktioniert nicht. Stattdessen sollten wir uns neue Gewohnheiten suchen, die zu positiven Emotionen führen – denn was wir gerne machen, fällt uns langfristig leichter.
  • Funktionieren kann nur, was sich (dauerhaft) in unseren Alltag integrieren lässt.
  • Wichtig dafür ist die Herangehensweise: Wir sollten uns gut informieren und kritisch an Informationen herangehen. Dabei gilt: Was „unsexy“ klingt, ist oft glaubwürdiger. Und: Wo Gütesiegel draufstehen, ist nicht immer Erstklassiges enthalten.

Wenn ich also das nächste Mal vor dem Dilemma stehe, dass keine meiner Wahlmöglichkeiten wirklich nachhaltig ist, werde ich versuchen, die in meinem Kontext beste Wahl zu treffen. Denn: Man kann immer nur so nachhaltig sein wie die Möglichkeiten, die man hat. Bleibt die Frage, wie sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verändern lassen, dass Nachhaltigkeit nicht wie im Buch zur Einzelaufgabe wird, sondern für alle Menschen möglich ist. Denn „nachhaltiger Konsum, vermeiden, verzichten und reduzieren allein werden […] niemals all unsere Probleme lösen können“ (146). Eine umfassende Antwort auf diese Frage würde allerdings ein weiteres ganzes Buch füllen; in diesem erwähnt Cornelia Diesenreiter lediglich den neuen Trend von Start-ups und Social Entrepreneurship, wo Menschen mit innovativen Nachhaltigkeitsideen einen wichtigen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung leisten.